Reh ohne Bedienungs-Anleitung

Wer ein Reh oder ein anderes Tier verarbeitet, bekommt sein Fleisch nicht nur mit Fell und Knochen, sondern auch  ohne Bedienungsanleitung. Für alle, die nicht zufällig Fleischer gelernt haben, ist das ausgesprochen ungewohnt. Normalerweise wird Fleisch doch gleich für eine bestimmte Zubereitung verkauft: »Ein Kilo Gulasch, zwei Rouladen und ein gutes Pfund Gehacktes, bitte…« Aber aus welchem Teil eines Tieres macht man Hackfleisch, aus welchem schneidet man Gulasch und wo sitzen die zarten Steaks? Wie verarbeitet man die Hachse eines Rehs, welche Rezepte gibt es für den Hals oder »Träger« des Tieres und warum ist der Rehrücken so beliebt und die Schulter nicht? Als Jäger stelle ich mir diese Fragen recht häufig und glaube, inzwischen einige gute Antworten gefunden zu haben. Jetzt durfte ich mich auf dem im Rahmen der Messe  »Jagd & Hund« stattfindenden »Wildfoodfestival« auf Einladung von Wild-auf-Wild bei zwei Workshops, in der Bloggerlounge und auf der großen Bühne darüber auslassen, welches Teilstück eines Rehs für welche Methode der Zubereitung geeignet ist.

Im englischsprachigen Raum gibt es eine einfache Faustregel um herauszufinden, welche Eigenschaften das Fleisch besitzt. Sie funktioniert nicht nur für Rehe, sondern auch für alle anderen, anatomisch ähnlichen aufgebauten Vierbeiner wie Hirsche, Schafe, Schweine, Rinder etc.: Je weiter entfernt von „Hooves and Horns“ das Fleisch wächst, desto weniger Sehnen enthält es. Komplizierte Dinge einfach zu erklären hat oft seine Tücken, doch in diesem Fall funktioniert es erstaunlich gut: An dem am weitesten von „Hufen und Hörnern“ entfernten Punkt sitzt tatsächlich das sehnenfreie, zarte Filet. Auch auf die anderen Teilstücke des Rehs lässt die Regel sich ohne weiteres anwenden. Der große Vorteil, wenn man sich das ganze beim Reh statt beim Rind ansieht, ist, dass sieben Kilo Fleisch nicht nur deutlich übersichtlicher und besser zu verarbeiten sind als einige hundert, sondern auch, dass das zerteilte Reh hinterher ohne weiteres in das Gefrierfach eines normalen Kühlschranks passt.

 

Im Rahmen meines Vortrags habe ich Teilstück für Teilstück besprochen, welche Eigenschaften das Fleisch eines Rehs hat und wie man es am besten behandelt – „minderwertiges Fleisch“ gibt es dabei für mich ebenso wenig wie „Edelteile“: Jeder Zuschnitt und jeder Muskel hat seine Stärken, die es für ein optimales Geschmackserlebnis herauszuarbeiten und zu nutzen gilt! Ein Gulasch aus dem sehnenfreien Rückenmuskel kann genau so wenig gelingen, wie eine kurzgebratene Hachse. Trotzdem werden die sehnigen Teilstücke aus den Extremitäten oft als weniger wertvoll dargestellt, vermutlich weil sie ein bisschen Zuwendung brauchen, bis es wirklich schmeckt: Um diese Sehnen zu zersetzen wird Energie benötigt. Aufbringen können die entweder unsere Zähne, durch ausdauerndes Kauen, ein Fleischwolf mit seinen rotierenden Messern oder einfach der Herd durch seine Hitze. Da die Sehnen aus Kollagen bestehen, dass bei einer Temperatur von 63° beginnt, sich in Gelatine zu verwandeln, ist stundenlanges (!) Schmoren meiner Meinung nach die beste Lösung für sehnige Teilstücke. Das Fleisch wird zart und mürbe und die Sauce herrlich seidig, um Welten besser, als sie ohne die Sehnen je werden würde!

Damit so viel Fleisch-Theorie nicht zu trocken daherkommt, hatte ich an einigen Stellen des Vortrags kleine Kostproben für das Publikum mitgebracht. Die Rezepte dafür waren natürlich bewährte Klassiker aus der Sammlung hier auf der Seite, in der sie ebenfalls nach Teilstücken und ihren Eigenschaften sortiert sind. Ich habe diese Rezepte nochmal überarbeitet und möchte sie hier noch einmal kurz vorstellen – von den Hufen und Hörnern ausgehend nach innen, zu Filet und Rücken.

 

 

Hals, Hachse (Unterschenkel) und Eisbein (Unterarm) sind ständig in Bewegung, stark beansprucht und enthalten viele dicke, feste Sehnen. Alle Sehnen entfernen zu wollen ist beinahe aussichtslos, deshalb lohnt es sich mit ihnen zu arbeiten, und nicht gegen sie: Ich verwende Hachse, Eisbein und Hals grundsätzlich für Gulasch, Eintöpfe und Currys, die mit diesen Teilstücken und reichlich Geduld besser gelingen, als mit jedem anderen Fleisch. Auf der »Jagd & Hund« hatte ich ein etwa 10 Stunden in fränkischen Rauchbier geschmortes Gulasch dabei.

 

 

Auch das (Schulter-)Blatt enthält recht viele Sehnen, das passt ebenfalls zur Faustregel von den »Hooves and Horns« schließlich sind Kopf und Vorderhufe in der Nähe. Es ist nicht einfach, den dreieckigen Knochen im oberen Bereich der Schulter auszulösen und auch wenn das gelingt, bleibt ein wenig homogenes Fleischstück : Sehnen unterteilen es einzelne Muskeln und dicke Dicke des Fleisches variiert stark – ein wirklich schönes Bratenstück ergibt es nicht. Bei größeren Tieren lohnt es sich, die einzelnen Muskeln voneinander zu trennen, beim kleinen Reh landet die Schulter bei mir aber einfach im Fleischwolf. Manchmal würfle ich es auch und gebe es mit zum Schmorfleisch, allerdings macht sich der im Vergleich geringere Anteil an Sehnen bei der Sauce schnell bemerkbar. In Dortmund gab es zum Probieren Reh-Buletten mit Vogelbeer-Holunder-Gelee.

 

 

Die Keule ist bereits recht weit von »Hufen und Hörnern« entfernt, sie sollte der Faustregel nach einigermaßen frei von Sehnen sein und genau so ist es. Ich teile das große Fleischstück fast immer entlang des Bindegewebes in die einzelnen Muskeln auf. Direkt über der Kniescheibe sitzt dabei die »Nuss« auf dem Knochen. Sie iat dem Huf am Ende des Laufes am nächsten – und tatsächlich: sie ist vergleichsweise sehnig. Deshalb ist die Nuss auch ist das einzige Teilstück der Keule, das ich meistens als Schmor- oder Hackfleisch verwerte. Oberschale, Unterschale, Rolle und Hüfte eignen sich hingegen hervorragend zum Kurzbraten, ich bereite sie am liebsten im ganzen als Steak zu. Zu probieren gab es da auf der Messe nichts, ich hatte ja nur eine Stunde Zeit für den Vortrag… Wenn die Zeit reicht, mag ich aber die Unterschale mit Mädesüß-Kruste sehr gerne.

 

 

Nachdem Hachse, Träger und Eisbein, Schulterblatt und Keule verarbeitet sind, bleiben vom Reh noch der Rücken und die Filets. Vom Knochen gelöst bestehen sie aus reinem Muskelfleisch und sind völlig frei von Sehnen, sobald man auch die Silberhaut auf dem Rücken entfernt hat. Diese Teilstücke gelten als die besten am ganzen Reh. Ich glaube, dass das vor allem daran liegt, dass sie so unkomplizert zuzubereiten sind: einige Sekunden scharf in der Pfanne gebraten, dann nochmal für einige Minuten in den vorgewärmten Backofen – fertig, und unschlagbar einfach. Was aber den Geschmack angeht, ist eine lange geschmorte Hachse dem Rücken mindestens ebenbürtig!
Auf der »Jagd & Hund« gab es den Rücken als kleine Medaillons mit rosa Kern, im Wasserbad medium gegart und dann gebraten. Dazu eine Bärlauchbutter, weil ich zum Glück noch ein letztes Glas Bärlauchpaste im Frost gefunden hatte. Unterm Strich war es eine sehr gelungene Veranstaltung: keiner der Besucher musste Hungern – und übrig geblieben ist auch nichts!