Bock tot?

Muss man im Frühjahr Rehböcke jagen?

Wie im Rausch gibt sich die Jagdcommunity jedes Jahr an den ersten warmen Tagen dem »Bockfieber« hin. Man freut sich im März und April auf den Beginn der Jagdzeit, man erinnert sich an vergangene Jagerlebnisse und man bereitet im Revier alles vor – bald wird es so weit sein…
Ich frage mich seit einer Weile, ob dieser frühe Jagdbeginn auf Rehwild wirklich nötig und sinnvoll ist?

Warum kann die Bockjagd nicht warten bis zum Herbst?

Rehböcke werden traditionell vom Frühjahr bis zum Herbst geschossen. Nur in der warmen Jahreshälfte tragen sie ein Geweih, das unter Jägerinnen und Jägern »Gehörn« genannt und gerne als »Trophäe« an die Wand geschraubt wird. In den letzten Jahren wurden der Beginn der Jagdzeit regional nach vorne verschoben. Ursprünglich war der 15.5. der Stichtag, heute jagen etwa die Hessen Rehe schon ab dem 1.4., und viele andere Bundesländer beenden die Schonzeit am 15. oder 16. April. Ich lebe seit einer Weile in Bayern, hier haben die Tiere immer noch bis zum ersten Mai ihre Ruhe.
Solche Veränderungen sorgen zuverlässig für Diskussionen unter den Jägerinnen und Jägern. Einige geloben Zurückhaltung und wollen sich im Sinn der Tradition weiter an den »richtigen«, den alten Stichtag halten, andere können den früheren »Aufgang« der Bockjagd kaum erwarten. Zwei Wochen hin- oder her scheinen dann wahlweise den Untergang der heimischen Forstwirtschaft oder des (jagdlichen) Abendlandes zu bedeuten: Wird der Rehbock nämlich »zu früh« erlegt, hat er sein über den Winter neu gebildetes Gehörn noch nicht »gefegt«. Der Knochen ist zum Ende seines Wachstums noch von einer dünnen Schicht Haut und Fell überzogen. Als vollwertige Trophäe gilt es in diesem Zustand nicht – für manche ein Sakrileg. Um sich bewusst zu machen, welchen Stellenwert solche Trophäen haben, sollte man sich in Erinnerung rufen, dass es bei uns in Bayern immer noch vorgeschrieben ist, den Kopfschmuck jedes erlegten männlichen Rehs zu präparieren und im Rahmen der jährlichen »Hegeschau« zur »Bewertung« vorzulegen. Meine Meinung zu diesem Thema habe ich hier aufgeschrieben.
Interessant ist es auch, sich mit den wirklich alten Jagdzeiten zu beschäftigen. Immer wird sich auf Tradition und »alte Sitten« berufen, doch »Im Gesetz von 1876 war beispielsweise für Rehböcke eine Schonzeit vom 1. Februar bis zum 30. Juni festgelegt«. [Sächsische Heimatblätter · 2 | 2016, S.195, »Die Entwicklung des Jagdrechts in Sachsen«, Matthias Donath und Lars-Arne Dannenberg]

Ist Jagd »angewandter Naturschutz«?

Mich wundert bei diesen Debatten an sich nicht mehr viel, aber ein bisschen stößt mir doch noch auf, dass die Frühjahrsjagd auf Rehe so gut wie nie grundsätzlich in Frage gestellt wird. Immerhin sind Frühjahr und Frühsommer sind eine äußerst sensible Zeit: Fast alle Tiere bekommen zwischen März und Juli ihren Nachwuchs. Der Bock wird bejagt – die weiblichen Rehe setze ihre Kitze und beginnen zu säugen. Junghasen an den Feldrändern, Bodenbrüter in den Wiesen, Vogelnester in den Büschen und Baumkronen… Nicht zuletzt die Jagdverbände mahnen deshalb, dass man sich in dieser Zeit in Wald und Feld besonders rücksichtsvoll verhalten solle: Hunde anleinen, Katzen im Haus lassen, und bitte auch als Mensch auf den Wegen bleiben! Das ist sicherlich sinnvoll.
Wenn wir Jäger dann aber schon vor Sonnenaufgang zu versteckten Hochsitzen schleichen und noch in der spätesten Dämmerung Rehböcke aus dem Wald schaffen, wirkt das… naja, nicht gerade schlüssig. Wir verlangen von anderen, ihre Freiheit und ihr Naturerlebnis einzuschränken, möchten selbst aber doch nicht darauf verzichten. Dabei geht es nicht nur um ein bisschen stilles Sitzen: Zur eigentlichen Jagd kommt schließlich noch der nicht unerheblichen Aufwand bei der Vorbereitung auf die Jagdsaison hinzu: Hochsitze bauen, aufstellen und reparieren, Böcke »bestätigen«, Pirschwege harken oder sogar mit dem Laubbläser anlegen, überhängende Äste aus Schussschneisen sägen, Wildkameras in jedem Winkel installieren… Kein Zweifel, dass diese Unruhe für alle Tiere im Revier spürbar werden muss. Ist es denn so dringend notwendig im Frühjahr zu jagen?

Beispiel: Hinweispost des Bayerischen Jagdverbands, in ähnlicher Form auch als Schild erhältlich.

Ich habe zwei Sitze, die ich im Frühjahr nicht benutzen darf, weil der seltene, gesetzlich streng geschützte Schwarzstorch in der Nähe ein Nest hat. Während der bekanntere Weißstorch häufig auf den Wiesen zu sehen ist, (und meines Wissens sogar die Babys bringt), meidet der scheue Schwarzstorch die Nähe des Menschen. Fühlt er sich gestört, gibt er seinen Horst oder sogar eine bestehende Brut auf. Als Grund können den Vögeln unter Umständen schon einige neugierige Fotografen reichen. In manchen Bundesländern sind deshalb sogar 300 Meter Mindestabstand zu bekannten Horsten für jagdliche und forstliche Aktivitäten durch »Horstschutzzonen« vorgeschrieben.
An einer anderen Stelle brüten jedes Jahr Stare in einer Baumhöhle neben dem Hochsitz. Dort dürfte ich ohne weiteres mein Glück versuchen. Für die Stare wäre das vermutlich ein größeres Problem – ich gehe nicht davon aus, dass sie sich nur zwei Armlängen von mir entfernt zu ihren Jungen wagen würden? Was die Vögel von einem Schussknall halten, weiß ich auch nicht, ich selbst trage jedenfalls lieber einen Gehörschutz oder verwende einen Schalldämpfer. Ich muss außerdem davon ausgehen, dass ich in vielen Fällen nicht einmal bemerke, welche Tiere sich von mir gestört fühlen. Auch diesen Sitz nutze ich selbstverständlich nicht, aber es wäre bei Staren nicht verboten. Jagdzeit bedeutet nun mal, dass man im Wald sitzen und warten darf. Wenn die Anwesendheit des lauernden Menschen den Tieren zu schaffen macht, betrachtet man das als unvermeidlichen Kollateralschaden.

Erlebnisorientierte Jagd

Ich gebe gerne zu, dass es mich nach dem Winter nach draußen zieht. Kalte, klare Sonnenaufgänge auf dem Hochsitz, die unmerklich in warme, sonnige Vormittage übergehen, Kaffee aus der Thermoskanne, singende Vögel und blühende Wiesen machen einfach Freude! Auch die Erfolgsaussichten sind gut, die Frühjahrsjagd ist einfach: Die Rehböcke sind zu keiner Zeit so viel unterwegs wie in diesen Wochen, in denen sie ihr Territorium für den Sommer abstecken und ihre Ansprüche gegen Rivalen verteidigen. Sie sind unvorsichtig und ungestüm, und so leicht zu erlegen, wie zu keiner anderen Jahreszeit. Zusätzlich wird argumentiert, dass die Rehe im kaum belaubten Frühjahrswald weniger Deckung udn Versteckmöglichkeiten haben – das zieht allerdings mittlerweile nur noch bedingt. Bei uns ist der Wald dieses Jahr, 2024, mal wieder seit Mitte April eine undurchdringliche grüne Hölle.

Geht es auch ohne Mai-Jagd?

Wildbestände zu reduzieren ist die entscheidende Begründung und der gesellschaftliche Auftrag für die Jagd in der Kulturlandschaft. »Beeinträchtigungen einer ordnungsgemäßen land-, forst- und fischereiwirtschaftlichen Nutzung, insbesondere Wildschäden, [sollen] möglichst vermieden werden«, so steht es im Bundesjagdgesetz. Wenn Wildschweine Maiskörner flächig wieder ausgraben, ist klar, wo der Schaden liegt. Auch Rehe können in ihrem Lebensraum „Wildschäden“ anrichten und großen Einfluss auf die zukünftige Entwicklung von Wäldern nehmen. Sie fressen die Triebe aufkeimender Bäume, besonders leckere Arten können vollständig aus der »Verjüngung« verschwinden. Sie deshalb zu bejagen halte ich für richtig – aber muss es gerade im Frühjahr sein?

»…aber die Schmalrehe!«

Im Mai gilt es den Männchen, den Böcken. Die Weibchen gebären und versorgen ab Mai ihre Jungen, sie dürfen nicht geschossen werden. Die frisch gesetzten Kitze wird auch nicht bejagt. Neben den Böcken haben lediglich die einjährigen Weibchen Jagdzeit, sie haben noch keinen Nachwuchs. Hin und wieder landet tatsächlich auch ein solches „Schmalreh“ in der Kühlzelle, aber es ist kein Geheimnis, dass im Mai ganz überwiegend männliche Rehe erlegt werden – nicht umsonst spricht man unter Jägern spätestens ab März aufgeregt von der »Bockjagd«.

Böcke werden gesucht, beobachtet, fotografiert, besprochen, gezählt, ihr Alter wird geschätzt und über ihr Schicksal entschieden: ist er dieses Jahr »reif«, soll das Tier erlegt werden? Wo sind die typischen Fegestellen, an denen ein Bock einen kleinen Baum mit seinem Geweih malträtiert hat, um sein Gebiet zu markieren? Welcher Bock hat seinen »Einstand« an der Grenze zum Nachbarrevier und muss deshalb schnellstmöglich geschossen werden, bevor er schlimmstenfalls an der Trophäenwand des unersättlich gierigen Nachbarn hängt? Die Jagdausstatter bewerben die Ausrüstung für die »Bockjagd«, die jagdlichen sozialen Medien platzen schier vor »Bock-Vorfreude«, die Jagdmemer machen Bockjagd-Witzchen. Mai ist Bockzeit. Schmalrehe gelten da eher als Beifang, und in manchen Revieren werden sie im Frühjahr nicht einmal bejagt.

Rehböcke auf Drückjagden erlegen?

Frühjahrsjagd hilft bei der Vermeidung von Wildschäden durch Rehe kaum weiter. Wenn eine Reduktion des Bestands das Ziel ist, liegt die Aufmerksamkeit auf dem Abschuss der Ricken, also der Weibchen, und der weiblichen Kitze. Jedes Weibchen kann Jahr für Jahr 1-3 Kitze setzen. Wird eines erlegt, fällt seine gesamte zukünftige Reproduktion aus. Jeder Bock hingegen kann ohne weiteres mehrere Weibchen „beschlagen“. Wird ein Bock geschossen, nimmt in der Paarungszeiteben einer seiner Kollegen seinen Platz ein. Es sind nicht die Böcke, sondern die Ricken, die über die zukünftige Population entscheiden. Das ist eine jagdliche und wildbiologische Binsenweisheit. Ohne die Jagd im Frühjahr würden unterm Strich also vermutlich weniger Rehböcke auf der Strecke liegen – der Rehbestand insgesamt müsste deshalb aber keinesfalls steigen.

Sicherlich gibt es Ausnahmefälle, in denen eine frühe Jagdzeit sinnvoll oder unvermeidbar ist, etwa unmittelbar an Aufforstungsflächen, gefährdeten Sonderkulturen wie Hopfenplantagen oder im Umfeld stark befahrener Straßen. Auch Wildschweine müssen an bestimmten Kulturflächen aufgezeigt bekommen, dass z.B. ein eben angelegtes Maisfeld oder später der milchreife Weizen keine Freiluft-Buffets sind. Ansonsten spricht außer Gewohnheit und Tradition wenig allerdings dagegen, erst deutlich später im Jahr mit der Jägerei zu beginnen. Eine kurze, drastische Jagdzeit in den Herbstmonaten würde dem Wild und allen anderen Arten im Frühjahr die dringend benötigte Ruhe lassen. Bestandsreduktion wäre trotzdem möglich, Wildfleisch kann man einfrieren und einkochen. Den Rehbock kann man statt am ersten Mai oder zur Paarungszeit im Hochsommer auch auf einer Drückjagd im Herbst erlegen. Erlegt man allerdings im Januar ein Reh, bekommt man schnell zu hören, dass die Tiere nun doch Ruhe benötigten, weil sie in den nahrungsarmen Monaten ihren Stoffwechsel reduzieren um Energie zu sparen. Das Prinzip „Rücksichtnahme“ ist in der Zeit, in der der Bock Kraft braucht, um sein Gehörn zu entwickeln, also durchaus bekannt – es greift aber nicht, wenn die anstregenden letzten Tage der Trächtigkeit, die Geburt und der Beginn der Laktation bei den Ricken anstehen?

Derzeit orientiert sich die Gesetzgebung offensichtlich daran, dass der Rehbock ab Ende April wieder sein fertiges Gehörn auf der Stirn trägt. Es mag sein, dass das manchen Jägerinnen und Jägern wichtig ist. Ich sehe auch, dass jemand, der für das ganze Jahr Jagdpacht bezahlt, bitteschön gerne auch das ganze Jahr jagen möchte – doch das Ruhebedürfnis der Nachkommen des begehrten Bocks (und aller anderen Tiere) wird schlicht ignoriert. Eine Umstellung würden den wenigsten Jägerinnen und Jägern leicht fallen – mir selbst auch nicht – aber Länder wie Schweden und Frankreich machen vor, dass es durchaus auch ohne Frühjahrsjagd gehen kann.

Frisches Wildfleisch im Mai

Wenn ich hier gegen die frühe Jagdzeit anschreibe, schneide ich mir gleich doppelt ins eigene Fleisch: Zum einen, weil ich mich doch irgendwie ein bisschen auf die Stunden im Wald freue. Hand aufs Herz: Ich bin kein Heiliger, lasse an Stellen, die mir dafür geeignet erscheinen, auch im Frühjahr mal meinen Hund springen und ich gehe durchaus gerne zur Jagd. Zum anderen würde mir die Maijagd fehlen, weil mein Gefrierschrank ungefähr ab März immer gefährlich viele leere Fächer aufweist. Tatsächlich muss ich gestehen, dass ich trotz guter Argumente wohl in einige Male auf meinen Hochsitz klettern werde: Die Beute aus dem Herbst ist bald aufgebraucht. Der große Vorteil des frühen Jagdbeginns ist für mich als »Kochtopfjäger«, dass ich zur Haupt-Grill-Zeit meinen Wildfleischvorrat auffüllen kann. Ich werde versuchen, an der mein Jagdgebiet begrenzenden Bundesstraße zwei oder drei Rehböcke zu erlegen – erfahrungsgemäß kommen sie ansonsten leider häufig ohnehin unter die Räder. Ob das klappt? Ich bn gespannt, denn das Laub im Wald ist längst grün und blickdicht…

…und warum dann dieser Text?

»Aber Fabian! Warum schreibst du dann so jagdfeindliches Zeug ins Netz? Stell dir vor, jemand liest das? Wenn es blöd läuft, hocken wir irgendwann im Mai alle zu Hause – wegen dir!«

Das ist richtig, danke fürs Lesen und Verstehen. Ich bin mir auch durchaus bewusst, dass diese Meinung ein bisschen unpopulär sein könnte. Für jagdfeindlich halte ich den Text allerdings nicht, im Gegenteil. Zum einen bin ich überzeugt, dass es der Jagd an sich nur hilft, wenn sie auf eine Art ausgeführt und begründet wird, die einer neutralen Überprüfung standhält. Ich sehe diesen Text nicht als Gesetzesentwurf, sondern als Denkanstoß. Die Jagd kann zwischen Schutz- und Nutzungsinteressen glaubhaft vermitteln, weil sie beide Gedanken vereint – wenn wir Jägerinnen und Jäger es zulassen.
Zum anderen (und viel wichtiger) sollte es aber im ureigenen Interesse aller »staatlich geprüften Naturschützer« und »Anwälte des Wildes« sein, den Tieren gerade in der sensiblen Brut- und Setzzeit nach Möglichkeit Ruhe zu gönnen.