Akira und der Wolf

„Soziale Kontakte auf das nötigste beschränken“ bedeutet wohl auch und vor allem: viel zu Hause hocken. Um das ein bisschen erträglicher zu machen, möchte ich heute einen etwas längeren Text posten, den ich ursprünglich noch für mein Buch „Ich esse, also jage ich“ geschrieben hatte.
Das Kapitel „Akira und der Wolf ist aber wieder aus dem Manuskript geflogen, weil es nirgends so richtig gepasst hat, und auch, weil ich ein großes, konfliktreiches Thema nur anschneide – und es dann nicht auflösen kann…

Eine Bewegung zwischen den Zweigen. Ein Vogel ist das nicht, dafür wackeln die Äste zu heftig. Langsam greife ich zu meinem Gewehr, sehe durch das Zielfernrohr und stelle von vierfacher auf zehnfache Vergrößerung. Für einen Augenblick wird etwa achtzig Meter entfernt ein Stück graues Fell in einer Lücke sichtbar. Ein Reh. Wieder zittern die Zweige. Sobald es aus dem Dickicht kommt, kann ich Alter und Geschlecht bestimmen. Und vielleicht auch schießen. Der Förster des Nachbarreviers, in dem ich auf dem Hochsitz sitze , hatte betont, dass er sich über jedes Reh freuen würde, weil er selbst wegen familiärer Probleme kaum zur Jagd ging. Ich sehe die Rückenlinie über dem Bewuchs und warte. Dann nehme ich das Gewehr wieder runter. Die Bewegung passt nicht. Zu fließend, zu gleichförmig – so läuft doch kein Reh. Einen kurzen Moment bin ich verwirrt. Ich war mir fast sicher, aber jetzt kann ich das Tier nicht eindeutig zuordnen, nicht »ansprechen«. Das Fell ist das Winterhaar eines Rehs, klar, die Größe spricht auch dafür, aber die Bewegung erinnert mich an einen Fuchs?

Sekunden später tritt nur noch fünfzig oder sechzig Meter vor mir ein Wolf auf eine Freifläche.

Es ist das erste mal, dass ich einen Wolf sehe und nach einem scheinbar missbilligenden Blick in meine Richtung läuft er auch schon weiter und verschwindet. Fünf, sechs Sekunden, länger habe ich ihn nicht beobachtet. Gelesen habe ich über die Tiere aber schon viel – das lässt sich kaum vermeiden, sobald man sich mit Wildtieren beschäftigt, und mit dem Verhältnis, das Menschen zu ihnen haben. Am Beispiel Wolf wird die oft furchtbar abstrakte Frage greifbar, wie viel Natur wir wir in einer menschengemachten Landschaft eigentlich erleben und ertragen wollen.

In den letzten Jahrtausenden hat der Mensch seine Umgebung Schritt für Schritt nutzbar gemacht und seinen Bedürfnissen angepasst. Manchmal sind die Spuren seiner Bearbeitung besonders deutlich zu erkennen. Einen Kiefernforst mit absolut gleichmäßigen Baumreihen, einen schnurgeraden, in Beton gefassten Bachlauf oder einen kahlen, abgeernteten Acker hält wohl kaum jemand für »unberührte Natur«. Bei einigermaßen naturnahen Mischwäldern, blühenden Weiden und großen Stauseen sieht das schon anders aus. Subjektiv werden solche Landschaften als »schön« empfunden, manchmal sind sie sogar besonders artenreich. Natürlich – im Sinne von »unverändert« – sind sie nicht. Völlig ursprüngliche, nicht vom Menschen beeinflusste Lebensräume gibt es bei uns schon lange nicht mehr, die letzten deutschen Urwälder sind spätestens seit dem Mittelalter Geschichte. Geologen sprechen in diesem Zusammenhang vom »Anthropozän«, dem Zeitalter des Menschen, unsere Aktivitäten sind derzeit fast überall der maßgebliche Einfluss auf der Erde. Eine neu geschaffene Kulturlandschaft hat die ursprüngliche Naturlandschaft verdrängt. Viele ihrer Bewohner sind allerdings geblieben.

In Deutschland wurden Wölfe im 19 Jahrhundert gezielt ausgerottet. Für erlegte Tiere wurden Prämien ausgelobt und Treibjagden auf Wölfe sogar mit Hilfe des Militärs durchgeführt. War der vermeintlich letzte Wolf in einer Region getötet worden, wurde häufig ein Denkmal errichtet. Manche diese Wolfssteine stehen heute noch.

Wanderten in den folgenden Jahrzehnten einzelne Tiere aus dem Baltikum und aus Polen nach Deutschland, wurden sie geschossen. In der DDR wurden in den vierzig Jahren ihres Bestehens etwa fünfzig Wölfe legal erlegt und offiziell gemeldet. Erst nach 1991 waren die Tiere dann nicht mehr unerwünscht. Nach europäischem Recht stehen Wölfe unter strengem Schutz. In der Lausitz konnten ein Pärchen Fuß fassen und im Jahr 2000 wurden auf einem Truppenübungsplatz die ersten Welpen beobachtet. Der Nachwuchs besetzte zunächst eigene Reviere im Grenzgebiet zwischen Brandenburg und Sachsen, später auch in anderen Regionen. Inzwischen ist der Nordosten Deutschlands flächig von Wölfen besiedelt. Die einzige Ausnahme bildet immer noch erstaunlicherweise das ebenso wildreiche wie bevölkerungsarme Mecklenburg-Vorpommern. Auch aus Bayern, Baden-Württemberg und vielen anderen Bundesländern werden immer wieder Beobachtungen oder sogar Welpen gemeldet.

Der Wolf ist zurückgekehrt.

»Isegrim« hat nicht den besten Ruf, wohl auch, weil er in Geschichten wie »Rotkäppchen« oder »Peter und der Wolf« nicht gut wegkommen – zu unrecht. Tatsächlich gibt es außer in Märchen und Legenden meines Wissens keinen einzigen dokumentierten Angriff eines Wolfes auf einen Menschen in Deutschland. Auch aus den Ländern, die ständig vom Wolf besiedeln waren, gibt es wenige Berichte von Übergriffen auf Menschen, und meistens von zuvor angefütterten Tieren. Nur in absoluten Einzelfällen wurden tatsächlich Menschen zur Beute.
Wir Zweibeiner haben von Wölfen also erwiesenermaßen eher wenig zu befürchten. Schafe, Ziegen und sogar Rinder und Pferde werden allerdings auch in Deutschland gerissen. Nicht oder nur unzureichend geschützte Weidetiere fallen regelmäßig den Raubtieren zum Opfer und auch vorschriftsmäßige Zäune werden ganz unvorschriftsmäßig von ihnen überwunden. Vom Wolf besiedelte Bundesländer haben deshalb früh »Wolfsmanagementpläne« für den Umgang mit dem Zuwanderer vorgestellt. Sie legen fest, wer für die Beobachtung der Wolfsbestände zuständig ist und wie ihre Anwesenheit überhaupt nachgewiesen werden soll. Vorbeugende Maßnahmen wie Zäune und Herdenschutzhunde werden ebenfalls detailliert erläutert und auch mögliche Entschädigungen für getötete Nutztiere festgelegt. Landwirte können bereits in »Wolfserwartungsgebieten« finanzielle Unterstützung für das benötigte Zaunmaterial beantragen und auch die so genannte »Entnahme«, also der Abschuss, einzelner Tiere oder ganzer Rudel ist für Ausnahmefälle in den Plänen vorgesehen. Obwohl Wölfe EU-weit streng geschützt sind, kann ein aktuell ein Abschuss genehmigt werden, sobald Wölfe ihre Scheu vor dem Menschen verlieren, wiederholt Schutzzäune überwinden oder in Siedlungen auf Nahrungssuche gehen.

Konfliktfrei ist die Wiederbesiedlung bisher trotzdem nicht verlaufen, im Gegenteil. Die Landwirtschaft beklagt, dass die Deckelung der Fördersumme zu niedrig und der Arbeitsaufwand beim Zaunbau zu hoch ist. Für Ärger sorgt auch, dass der Wolf als Todesursache bei Nutztierrissen aufwändig nachgewiesen werden muss, was auch bei entsprechenden Indizien nicht immer gelingt. Manche Jäger fürchten außerdem um die Wildbestände und berichten, dass die Beutetiere des Wolfes nicht nur weniger würden, sondern auch ihr Verhalten verändern und besonders scheu und schwer zu erlegen wären.

Dazu kommt, dass manche Menschen einfach Angst vor dem Wolf haben. Seit seiner Rückkehr gibt es in Deutschland immerhin wieder eine Art, für die der Mensch grundsätzlich – in seltenen Ausnahmefällen – als Beute in Frage kommen könnte.

Die Diskussion wird entsprechend emotional geführt, auf Informations- und Diskussionsveranstaltungen wird nicht selten gestritten und geschrien. Wolfsbefürworter argumentieren, dass die Art bei uns heimisch war, und es deshalb auch wieder werden sollte. Die Tiere stehen als Symbol für eine ungezähmte, wilde Natur, die nicht vom Menschen unterworfen wird, sondern selbstbewusst ihren Platz fordert. Wolfsgegner verweisen auf die Tatsache, dass die Raubtiere global betrachtet alles andere als selten oder bedroht sind, und fürchten, dass sie im dicht besiedelten Deutschland ein konfliktarmes Nebeneinander nicht möglich ist. Für zusätzlichen Zündstoff sorgen immer wieder tot aufgefundene Tiere – manchmal auch mit Schusswunden.

Als ich angefangen habe, mich intensiver mit Umwelt- und Jagdthemen zu beschäftigen, habe ich in Berlin gelebt und studiert. Von dort aus betrachtet, erschien mir die Sache mit den Wölfen sehr einfach: Die Mehrheit der Gesellschaft scheint zu befürworten, dass diese Tiere in Deutschland leben können. Schäden und Nachteile für einzelne Betroffene werden deshalb finanziell ausgeglichen, ansonsten gilt es sich mit den Tieren zu arrangieren und das ohnehin verschwindend geringe Risiko eines Unfalls schlicht zu ertragen. Erst als ich mit meiner Freundin Lydia dann nach Brandenburg gezogen bin, mitten ins Wolfsgebiet, wurde das plötzlich schwieriger als gedacht.

Einige Wochen nachdem ich im Nachbarrevier den Wolf gesehen hatte, war eine enge Verwandte von ihm bei uns eingezogen. Mit gerade mal acht Wochen hatten wir Akira bei ihrem Züchter abgeholt, seitdem war sie damit beschäftigt, das ganze Haus auf den Kopf zu stellen und laut und ausdauernd die Eichhörnchen und Amseln im Garten zu verbellen. Nachbarn, die sich an unserem jungen Jagdhund stören könnten, gab es glücklicherweise keine: Von dem Forsthaus mitten im Wald, in dem wir in dieser Zeit lebten, waren es bis zum nächsten Dorf knapp vier Kilometer.

Nach einigen Tagen Eingewöhnung durfte Akira auch den Wald jenseits des Gartenzauns gemeinsam mit uns erkunden. Waldwege, Gestrüpp, Brombeerhecken, umgestürzte Bäume, matschige Gräben und hohes Gras – alle Bestandteile der Landschaft sollte sie kennenlernen, das nennt sich Frühprägung und ist bei jungen Jagdhunden üblich. Ohne Leine und Halsband ging es auf kleine Spaziergänge. Junge Welpen laufen ohnehin nicht weg, sondern haben einen angeborenen Folgetrieb und halten am liebsten Blickkontakt. Sogar das Zurückrufen klappte schon einigermaßen: Ein Pfiff hat zu bedeuten, dass Menschen in der Laune sind, um großzügig Futter zu verteilen, – das hatte Akira schon beim Züchter verinnerlicht.

Und natürlich sollte unsere angehende Jagdgehilfin auch Wild kennenlernen. Ein guter Weg dafür ist es, ein Tier zu erlegen, und zusammen mit dem Welpen zur Beute gehen. Der Hund kann das Wild ausgiebig beschnüffeln und verknüpft das Erlebnis auch mit dem Menschen, der es ihm ermöglicht hat. Die Bindung zwischen den beiden wächst dadurch enorm – zumindest war uns das so erklärt erklärt worden.

Wann immer Arbeit und Welpenbeaufsichtigung es zuließen, ging es also auf die Jagd um das benötigte Frühprägungswild zu erlegen. Lydia hatte sich dafür einen besonders vielversprechenden Platz nur ein paar Hundert Meter vom Haus entfernt für den winterlich-frühe Sonnenuntergang ausgesucht. Der Welpe und ich blieben zu Hause und warteten gespannt auf einen Schussknall. Leider hatte Lydia an diesem Tag kein Glück, aber immerhin konnte sie im letzten Licht einen Fuchs beobachten , erzählt sie. Eine Weile hatte er nicht weit vom Hochsitz im Halbdunkel gestanden und sie angeblickt. Ganz hell und ungewöhnlich groß war er gewesen. Es wundert mich ein bisschen, dass sie davon überhaupt berichtet. Füchse wurden in diesem Revier auf Anweisung von Oben grundsätzlich nicht bejagt, deshalb begegneten wir ihnen häufiger im Wald. Nach kurzem Zögern spricht sie aus, was sie beschäftigt: »Der Fuchs war wirklich, wirklich groß und viel erkennen konnte ich im Dunkeln nicht mehr. Aber eigentlich bin ich mit fast sicher, dass es kein Fuchs gewesen sein kann. Ein Wolf würde eher passen. Aber so nah am Haus?«

Am nächsten Morgen setzt sie sich noch einmal auf den Hochsitz. Anhand einer markanten Wurzel kann sie mich in die Richtung dirigieren, an der sie das Tier gesehen hatte. Nach etwa vierzig Schritten ruft sie »Stopp! Genau da war es!«. D Blaubeerkraut reichen bis über mein Knie. Von einem Fuchs wäre hier vielleicht eine Bewegung sichtbar gewesen, eventuell auch mal die Ohren oder der Kopf, aber niemals das ganze Tier. Lydia steigt vom Hochsitz und läuft zu mir, Akira folgt ihr und kämpft sich durch das Dickicht. Den jungen, etwa fuchsgroßen Hund können wir dabei nur anhand der wackelnden Zweige erahnen. Gemeinsam suchen wir nach Spuren und finden einige Meter weiter einen Abdruck, der beinahe aussieht wie von den tapsigen Pfoten der kleinen Akira – nur viermal größer.

Wir hatten uns in den letzten Monaten gefreut, so viele Tiere um uns herum zu haben. Auf dem Dachboden lebten Fledermäuse, in der Scheune eine Schleiereule und im Sommer ein paar Schwalben und vom Badezimmer aus hatten wir in der Dämmerung manchmal Rehe beobachtet (und nie geschossen, weil man das auch ohne Nachbarn nicht darf). Beim Einschlafen hörten wir den Waldkauz rufen und auch Wildschweine waren uns mehr als einmal über den Weg gelaufen. In einer besonders warmen Sommernacht hatten die Sauen sich sogar bis in unseren Löschteich gewagt – am nächsten Tag war deutlich zu sehen, wo sie sich im Schlamm gesuhlt hatten. Wegen der Füchse hatten wir hatten auch schon darüber gesprochen, dass wir den Zaun des Hühnerstalls erneuern müssten, bevor wir welche kaufen könnten. Es war alles andere als überraschend, dass jetzt auch mal ein Wolf in der Nähe unseres versteckten Häuschens vorbeigekommen war – das besondere daran war vermutlich eher, dass es wir es zufällig bemerkt hatten.

Für Forschungszwecke werden Wölfe regelmäßig mit GPS-Sendern markiert, eines der ersten in Deutschland besenderten Tiere ist binnen weniger Wochen bis nach Weißrussland gelaufen. Wölfe legen manchmal in einer einzigen Nacht Entfernungen von bis zu 60 Kilometer zurück. Der vermeintliche Fuchs könnte innerhalb einer Woche überall in Brandenburg sein – und alle anderen Wölfe aus Brandenburg bei uns. Dass es im südlichen Brandenburg Wölfe gibt, ist kein Geheimnis. Wir wussten auch genau, dass wir bei uns im Wald eher von einem umfallenden Baum erschlagen werden würden, als von einem dieser Tiere gefressen. Trotzdem war auf einmal eine gewisse Sorge da, nicht zuletzt wegen Akira. Wölfe verteidigen ihre Reviere gegen ihre Artgenossen – und manchmal auch gegen Hunde. In Schweden werden immer wieder Jagdhunde bei der Elchjagd getötett. Die blutigen Bilder gehen durch die Fachpresse und die Jagdseiten im Internet.

Sollte der Wolf in der Gegend geblieben sein, könnte er Akira entweder als leichte Beute oder als Konkurrenten ansehen. Unser unerfahrener Welpe wäre weder schnell noch kräftig genug, um ihm auch nur annähernd etwas entgegenzusetzen…

Um die Geschichte kurz zu machen: Es ist nichts passiert. Wir haben nie wieder einen Wolf zu Gesicht bekommen. Einige Wochen später hat Akira ihren Jagdinstinkt entdeckt und ist mehrfach ausgebüchst, um ausdauernd für uns unsichtbaren Fährte zu folgen.Einmal war sie mindestens eine Stunde bellend im Wald unterwegs, bis sie irgendwann völlig erschöpft angetrottet kam. Daraufhin durfte sie eine ganze Weile nicht mehr ohne Leine laufen. Während dieser Zeit sind wir nach Thüringen gezogen, in eine Gegend, in der es bisher keine Wölfe gibt. Der »große Fuchs« ist aber offenbar geblieben: Später haben wir erfahren, dass in diesem Revier ein Wolfspärchen Welpen bekommen und großgezogen hat.

Wie unrerwartet schwer es mir gefallen ist, mir einen Lebensraum mit dem Wolf zu teilen hat mich beschäftigt. Dabei bin ich mit solchen Problemen nicht alleine: Wie sehr wir uns an eine tier- und naturfreie Umgebung gewöhnt haben, und wie schwer wir uns damit tun, ungezähmte Tiere in unserem Lebensraum zu akzeptieren, wird auf einer viel kleineren Ebene auch mitten in den Städten deutlich. Schon ein Falter, der in einer warmen Sommernacht um die Lampe auf dem Tisch fliegt, stört. Ein Wespennest auf dem Balkon stört noch mehr, aber vielleicht kann die Feuerwehr helfen? Mücken im Schlafzimmer stören so sehr, dass sie ohne großes Federlesen einfach erschlagen werden. Dabei würde niemand Insekten ausrotten wollen, im Gegenteil! Das Insektensterben beschäftigt doch viele Menschen. Die kleinen Krabbler sollen leben – aber bitte nicht im Wohnraum und erst recht nicht in unseren Wollpullovern oder Lebensmitteln.


Meine Sorge vor einem Wolfsangriff war von Anfang an nicht wirklich gerechtfertigt. Viele andere Gefahren, die einem Welpen drohen, sind erheblich größer und eine permanente Kontrolle ist bei einem selbstständig jagenden Hund leider unmöglich. Ich kenne mittlerweile mehrere Jäger, die Hunde an den Straßenverkehr verloren haben. Auch Wildschweine töten Jahr für Jahr Jagdhunde im Einsatz und gelegentlich kommt es leider sogar vor, dass ein Hund bei der Jagd erschossen wird. Autos und Sauen werden im Laufe ihres Lebens echte Gefahren für Akira sein, Wölfe eher nicht. Sucht man gezielt nach Berichten von Übergriffen auf Hunde in Deutschland, findet man, je nachdem welchen Quellen man vertrauen möchte, insgesamt vielleicht fünf Fälle in den letzten zwanzig Jahren.

Die Kulturlandschaft ist ohne wilde, unkontrollierbare Arten ärmer. Ich würde mir nach wie vor wünschen, dass trotz aller Schwierigkeiten Freiräume auch für den Wolf erhalten und geschaffen werden. Einfach ist das nicht. Die zugrundeliegende Frage ist wesentlich größer, als die Entschädigung für ein paar Schafe. Es geht nicht nur um den Gegenwert von Zäunen und Nutztieren, oder um rein statistisch eher geringe Gefahren für Hunde, sondern vor allem um Teilhabe und demokratische Mitbestimmung. Die gesellschaftlichen Machtverhältnisse sind eindeutig – und unfair: Wesentlich mehr Menschen leben in Städten als in kleinen Dörfern und weniger als fünf Prozent der Bevölkerung arbeiten noch in der Land- und Forstwirtschaft. Wenn eine Mehrheit in den Städten entscheidet, dass es nach romantischer Wildnis klingt, wenn in der Provinz flächendeckend wieder Wölfe zuwandern, verändert es das Leben dieser Leute nicht. Menschen im Wolfsgebiet hilft es nur begrenzt, wenn gerissene Tiere ersetzt und die Anschaffung von Schutzhunden gefördert werden, oder wenn benötigtes Zaunmaterial bezahlt wird. Ausgleichszahlungen sind kein Allheilmittel – ich habe während der Zeit in Brandenburg nicht einmal nachgesehen, ob ein in Ausbildung befindlicher Jagdhund im Schadenskatalog des Managementplans aufgeführt ist. Die unangenehme Ahnung, dass mein Welpe potentielle Wolfsbeute sein könnte, war vielleicht irrational – aber sie war da und nicht zu leugnen. Meine Angst um Akira wäre kein bisschen geringer gewesen, wenn man mir für den Fall der Fälle einen kostenlosen Ersatzwelpen versprochen hätte.

Eine Lösung habe ich nicht.