Mit Annalena auf Diebestour

Annalena Baerbock, die Kanzlerkandidatin der Grünen, hat vor einigen Tagen ein Buch veröffentlicht: „Jetzt“. Umgehend wurde ihr vorgeworfen, abgeschrieben und geistiges Eigentum entwendet zu haben. Ich habe den auf diese Anschuldigungen folgenden Schlagabtausch sehr interessiert beobachtet. Die Diskussion betrifft auch mich, oder sie könnte mich betreffen.

Ein Kanzlerkandidat bin ich allerdings nicht, Mitglied bei den Grünen auch nicht. Genau wie Annalena Baerbock habe ich aber mal ein Buch geschrieben. Es hat exakt das gleiche Format wie »Jetzt«, nur ein paar Seiten weniger und beide sind im gleichen Verlag erschienen, bei Ullstein in Berlin.

Die frischgebackene Autorin Annalena Baerbock ist sozusagen meine Kollegin. Willkommen an Bord, Kaffeemaschine ist da drüben, zum Rauchen am besten durch die Glastür hinten raus auf die Feuerleiter.

Sachbuch, Parteiprogramm oder Erzählung?

Wir kennen uns zwar nicht persönlich, aber unsere Bücher haben auch jenseits von Format und Verlag eine Menge gemeinsam. Beide sind keine wissenschaftliche Veröffentlichung, und auch keine reinen Sachbücher. Es geht irgendwie abstrakt um Werte und Vorstellungen, aber auch konkret um handfeste Fragen aus der realen Welt. „Ich esse also jage ich“ war damals im Verlagsprospekt als »erzählendes Sachbuch« kategorisiert, das scheint mir passend. Auf der einen Seite geht es um persönliche Erlebnisse auf dem Weg zum Jagdschein und die Überzeugung, diesen Schritt als (noch-)Vegetarier zu wagen. Man kann darüber streiten, ob es sich lohnt, meine Gedanken zu lesen (Spoiler: Ja, tut es unbedingt). Ob sie objektiv »richtig« oder »falsch« sind, ist aber nicht wirklich zu bewerten – die Gedanken sind bekanntlich frei. Parallel geht es aber eben auch um ein Sachthema, in meinem Fall die Jagd, und da ließen sich Fakten durchaus überprüfen, bemängeln und korrigieren.

Das ist auch dem Verlag bewusst. Dank der Arbeit an meinem Buch kenne die Abläufe bei einem solchen Projekt, und erinnere mich an ein Telefonat, das ich kurz nach Abgabe des Manuskripts mit meiner Lektorin geführt habe: Ich sollte vor dem Druck ein Formular unterschreiben, dass ich nicht abgeschrieben habe, oder Zitate wenigstens als solche gekennzeichnet sind. Es gibt in meinem Buch keine einzige Quellenangabe. Ich habe mir das alles selbst aus den Fingern gesogen – behaupte ich.

Allgemeinswissen oder Zitat?

Allerdings habe ich nicht alle Fakten ohne fremde Hilfe zusammengetragen. Erwähne ich, wie groß und schwer ein Reh ist, habe ich diese Zahlen gelernt oder nachgeschlagen. Ich war selbst nicht beteiligt an Grundlagenforschung „Capreolus capreolus maximus – Maximalgewichte und -größen des europäischen Rehwildes“.
Auch wenn ich mich erinnere, dass es mir eigenartig vorkam, mich für den Jagdschein intensiv mit Waffen, Munition und Tötungswirkung zu beschäftigen, ist das zunächst ein persönliches Erlebnis. Plötzlich musste ich einen Umgang damit finden, dass ich Fachliteratur besitze, die nüchtern auflistet, welche Patronen jeweils geeignet sind, um einer bestimmten Tierart das Leben zu nehmen. Töten zu wollen, das war doch immer buchstäblich die Definition von »böse«? Das sind zweifelsfrei eigene Gedanken.
Gleichzeitig gebe ich in diesem Abschnitt aber auch Wissen wieder: »Die Patrone .30-06 Springfield wurde Anfang des 20. Jahrhunderts für die US-Armee konstruiert und bis in die Achtzigerjahre verwendet; noch immer gehört sie zu den beliebtesten Jagdpatronen«. Dieser Satz steht so in meinem Buch. Er ist sachlich korrekt, und deshalb wird das in ähnlicher Form auch in anderen Büchern stehen. Nach dem letzten Kapitel ist in meinem Machwerk sogar ein Glossar angehängt, das verwendete jagdliche Fachbegriffe kurz erklären soll – dort wimmelt es von ähnlichen Sätzen.

Ich habe meine Lektorin damals am Telefon gefragt, ob es trotzdem in Ordnung ist, wenn ich das Formular zu den Quellen unterschreibe. Ich kann beim besten Willen nicht sagen, wer alles ein paar Sätze zum Durchschnittsgewicht eines Rehs veröffentlicht hat. Ich weiß nicht, wer als erstes die Entstehung der .30-06 festgehalten hat – irgendein amerikanischer Militär in einem Jahresbericht vermutlich? Bewusst unterschlagen wollte ich selbstverständlich nichts, aber wen müsste man in so einem Fall überhaupt zitieren?

Blogger oder Kanzlerin?

Die Diskussion um das Buch meiner frischgebackenen Autorenkollegin Annalena und ihre angeblich abgeschriebenen Textstellen hat mich an die eigene Unsicherheit erinnert und deshalb beschäftigt. Der Übergang zwischen Allgemeinwissen und zitierwürdigem Detail ist fließend. Ich habe mir die bei meiner »Kollegin« kritisierten Passagen mehrfach angesehen und an mein vor zwei Jahren unterschriebenes Zettelchen gedacht. Ob es wohl noch in irgendeiner Akte schlummert?

Ich habe derzeit nicht vor, als Bundeskanzlerin zu kandidieren (Klartext: Ich bin sehr geeignet und sofort bereit, diese Verantwortung zu übernehmen! Bis jetzt hat aber leider keiner gefragt). Falls es irgendwann dennoch dazu kommen sollte, könnte man mir allerdings ohne weiteres die gleichen Vorwürfe machen wie Frau Baerbock. PLAGIAT! SKANDAL!!

Ich hatte kein schlechtes Gewissen, als ich damals das Formular schließlich unterschrieben habe, und ich glaube – soweit ich das anhand der beanstandeten Textstellen beurteilen kann – auch nicht, dass Annalena Baerbock eines haben muss. Ich möchte weder die Autorin noch ihre Meinung verteidigen, aber wegen solcher Lappalien ein Fass aufzumachen, ist bestenfalls Blödsinn – und schlimmstenfalls böser Wille. Ich halte die (aufgebauschte) Diskussion um einige Formulierungen für ein Ablenkungsmanöver mit dem Ziel, der inhaltlichen Diskussion aus dem Weg zu gehen. Es gibt doch genug drängende Fragen für interessierte Wählerinnen und Wähler. Was steht in »jetzt« zu wirklich wichtigen Themen eigentlich so drin?

Ich esse also Jage ich, Buch, Fabian Grimm, Haut-gout.de, Vom Jäger zum Vegetarier, Cover